Mein V-Day war der 2.7. – und ich habe mich über diesen Impftermin mehr gefreut als über die Berufung auf meine Professur. Die beste Zeit meines Lebens schien vor mir zu liegen. Mein erster Sommer an der Ostsee, endlich wieder einige Treffen mit Freunden, dazu die Gewissheit, schon in wenigen Tagen halb vor Corona geschützt zu sein und in sechs Wochen den Horror abhaken zu können – die Aussichten konnten kaum besser sein.
Niemals hätte ich gedacht, dass an diesem Tag die schlimmste Hölle meines Lebens losbrechen würde.
Nach einem Wochenende mit heftigen, aber erwartbaren, Nebenwirkungen schien ich an Tag 3 über den Berg, als es an Tag 4 dann richtig los ging. Nach einem Spaziergang bekam ich plötzlich Fieber. Mehrstündige Fieberschübe aus heiterem Himmel verfolgten mich ab jetzt täglich, und wurden schnell von anderen Symptomen begleitet: Schweißausbrüche, ein Gefühl als würde ich getasert – als würden die Muskeln in Rücken und Armen gleichzeitig verkrampft und gelähmt – und heftige, grippeartige, Schwäche. Schon zu essen, spazieren zu gehen, einzukaufen oder eine Email zu schreiben verschlechterte meinen Zustand so stark, dass ich danach mehrere Stunden apathisch auf dem Sofa hing. In weniger als einem Monat verlor ich deshalb 10% meines Körpergewichts. In Woche Vier landete ich per Rettungswagen mit einer inneren Blutung im Krankenhaus, die allerdings in zwei Tagen wieder ausheilte und deren Verbindung zu den anderen Dingen unklar blieb. An Arbeit war über Monate nicht zu denken, die Wohnung konnte ich zeitweise kaum noch verlassen, und ob es jemals besser würde, war zu keinem Zeitpunkt klar.
Erst nach fast drei Monaten gelang es, auch durch großzügiges Schwingen der chemischen Keule, meinen Zustand soweit zu stabilisieren, dass ich jetzt wieder arbeitsfähig bin. Leider ist trotzdem noch nicht ganz klar, was los war, womit auch eine Verbindung zur Impfung nicht streng beweisbar ist. Ich bin also vorerst nur an oder mit einer Biontech-Impfung erkrankt. Lieber hätte ich mit diesem Post gewartet, bis völlige Klarheit herrscht, doch scheint es mir zu wichtig, diese Geschichte schon jetzt zu erzählen, um in unserer aufgeheizten Lage vier Punkte zu unterstreichen:
Ja, es scheint bei dieser Impfung Nebenwirkungen zu geben, die nicht im Beipackzettel stehen. Wie kann das sein, wo doch Milliarden von Impfungen überwacht wurden? Ich denke, es ist nicht die Schuld der Behörden, sondern es gibt zwei unvermeidliche blinde Flecken in der Arzneimittelüberwachung:
- Rückfälle existierender Erkrankungen werden tendenziell nicht gemeldet, und sind ohnehin nicht zweifelsfrei der Impfung zuzuordnen. Ein schönes Beispiel (für dies und alles weitere) ist die Horrorkrankheit ME/CFS. Seriöse Quellen wie Selbsthilfeorganisationen berichten hier, dass bis zu 10% der Erkrankten mit der Impfung einen schweren Rückfall erleiden – mit Folgen bis zu Pflegebedürftigkeit. In Beipackzettel und Sicherheitsbericht findet sich dazu (noch) kein Wort.
- Schwierig abzuklärende Erkrankungen können oft erst nach langer Zeit definitiv nachgewiesen werden. ME/CFS zum Beispiel lässt sich per Definition nur diagnostizieren, wenn die Beschwerden mindestens sechs Monate anhalten, in der Regel dauert es noch deutlich länger. Falls uns die Impfung also eine ME/CFS-Epidemie bescheren sollte, können wir es überhaupt erst 2022 wissen.
Gerade chronisch Kranke können daher valide Bedenken gegen eine Impfung haben. Bleiben wir beim Beispiel ME/CFS. Es wird geschätzt, dass es hier 250.000 Betroffene in Deutschland gibt. Die meisten wissen nichts von ihrer Krankheit. Sie werden lediglich ein mulmiges Gefühl haben, weil sie wissen, dass sie gesundheitlich auf dünnem Eis unterwegs sind, schon einmal länger mit neurologischen oder (fehldiagnostizierten) Psychiatrie-Symptomen krank waren, und vielleicht auch schon einmal eine Impfung schlecht vertragen haben. Wir sollten diesen Leuten die Möglichkeit geben, auf ihre innere Stimme zu hören und Nutzen und Risiko mit ihren Ärzten selber abzuwägen.
Es darf deswegen keine Impfpflicht geben. Auch nicht für bestimmte Berufe, und auch nicht indirekt. Wenn wir 3G einführen und Schnelltests kostenpflichtig machen, wofür es sehr gute Argumente gibt, müssen wir den Preis auch so niedrig wie möglich halten. Am besten durch digital zertifizierte Selbsttests nach österreichischem Vorbild. Ich bin entsetzt, welch eine Diskriminierungskampagne vor unseren Augen läuft. Es scheint mir, als hätte sich die große Mehrheit der Gesunden mit den Medien verbündet, um die Bedenken chronisch Kranker nicht nur zu ignorieren, sondern zu diskreditieren. Bitte bedenkt: dass die Impfung bei euch gut lief, war kein Naturgesetz, sondern nur ein kleines bisschen Glück, das leider nicht jeder hat. Das Impfpflicht-Argument von Fremdschutz überzeugt mich nicht. Ein täglicher Schnelltest kann ähnlich viel Schutz bieten wie die aktuellen Impfungen, dazu an anderer Stelle mehr.
Lasst euch impfen! So traumatisch meine letzten Monate waren, so wichtig ist es auch, die Kirche im Dorf zu lassen. “Da sind sie aber der einzige Fall, den ich kenne” war der gefühlt erste Satz von allen 12 behandelnden Ärzt:innen. Und auch ich kenne in meinem Umfeld (Internetforen ausgenommen) keinen anderen – dafür aber mehrere Fälle von Long Covid. Das macht es für mich nur frustrierender, ist aber für euch eine gute Nachricht. Diese Impfung ist sicher und sinnvoll, daran kann kein Zweifel bestehen.
… aber bedenkt, dass ihr euren Körper fordert. Es bleibt die quälende Frage: warum ich? Warum nicht Jens Spahn oder Karl Lauterbach? Eine naheliegende Antwort ist der Zeitpunkt. Ich hatte meinen Termin nach einem fast vollen Jahr ohne Urlaub, dafür mit Corona-Lockdown, zwei Umzügen zu Pandemiebedingungen und viel beruflichem Stress. Gut möglich, dass meine körperlichen Reserven für die Belastung einer RNA-Impfung nicht mehr ausgereicht haben. Womöglich hätte es gereicht, bis in den Herbst zu warten – und ich hätte den besten Sommer meines Lebens gehabt und wäre jetzt vor Corona geschützt und hätte unsere Gesellschaft eine Person näher an die Herdenimmunität gebracht. Ich hatte mir all diese Gedanken sogar gemacht, und spontan verworfen, weil ich mich von der Propaganda habe einlullen lassen. Biontech, dachte ich mir, ist das neue Mayo – und Jens Spahn ist sein Prophet. Falls ich eine Zweitimpfung riskiere, werde ich mir bei der Fahrt ins Impfzentrum drei Fragen stellen: “Würde ich heute eine Bergtour machen?”; “Würde ich heute einen Horrortag im Job durchstehen, ohne auszurasten?”; “Würde mein Körper heute mit einer Infektion fertig?” – und bei einem Nein umdrehen.
Wenn mich diese Geschichte von einem überzeugt hat, dann davon: eine offene Diskussion über Nebenwirkungen und Vermeidungsstrategien würde die Impfquote nachhaltiger erhöhen als weitere “Aufklärung” über ihre vermeintliche Harmlosigkeit.