Für eine versöhnende Pandemiestrategie

Ich bin besorgt. Wir erleben eine beispiellose Spaltung der Gesellschaft. Sie scheint mir diesmal nicht von den üblichen Verdächtigen auszugehen, nicht von Trollen und Reichsbürgern, nicht von Preppern und nicht von orangefarbigen Milliardären. Sie wird diesmal vorangetrieben von einer glücklichen Mehrheit, und befeuert von praktisch allen demokratischen Parteien und Medien. Ihr Anfang war ein unbedingt unterstützenswertes Ziel: möglichst viele Menschen mit einer Impfung vor einer Pandemie zu schützen.

Doch ist die Kampagne auf dem Weg entgleist. Zunehmend lesen sich Berichte so, als wären Ungeimpfte ausnahmslos Irre, und als Alleinschuldige der 4. Welle ausgemacht. Medien schwärmen offen von einem Land, dem “Ungeimpfte egal sind” und machen Stimmung, “keine Rücksicht mehr zu nehmen”, ignorierend, dass laxe 2G-Regeln durchaus auch ein Treiber der Pandemie sind, dass ein maskierter getesteter Ungeimpfter mehr zur Eindämmung beiträgt als ein geimpfter Partygänger, dass das Impfrisiko für manche Minderheiten erheblich ist, und dass es im Einzelfall gute Gründe gegen eine Impfung geben kann.

Eine solch undifferenzierte Verurteilung einer Gruppe scheint mir gefährlich nahe daran, den syrischen Nachbarn für die Kölner Silvesternacht verantwortlich zu machen. Eine neue Art von Diskriminierung verdient auch einen Namen: Vaccinismus.

Eine zugrunde liegende Annahme – Geimpfte erkranken niemals schwer und stecken keine anderen an – ist längst überholt. Doch wird sie weiter aufrecht erhalten, auch unter dem Preis zunehmender Widersprüche wie diesen:

  • die eiserne Annahme, dass 2G-Infektionen in der 2G-Familie bleiben, während man Schulen schließen muss, weil kranke Kinder sonst ihre Großeltern anstecken
  • dass eine erneute Maskenpflicht zuerst in Schulen durchgesetzt wird, nicht aber auf 2G-Veranstaltungen
  • dass man Tests künstlich um einen Faktor 20-100 verteuert, weil ein Druckmittel zur Durchsetzung einer Impfpflicht attraktiver ist als eine hochwirksame Waffe im Kampf gegen die Pandemie

Fast scheint es, als stecke dahinter Vorsatz, als versuche man bewusst, eine 2G-Welle aufzuschaukeln, um ein Argument für eine Impfpflicht zu bekommen. Falls das stimmt, bin ich reichlich entgeistert. Keine Führungskraft käme im echten Leben mit der Strategie durch, den Laden bewusst an die Wand zu fahren, um 20% ihrer Mitarbeiter zu Dummköpfen zu erklären und für alle Fehlentwicklungen verantwortlich machen zu können.
Wenn es irgendeine Möglichkeit gibt, die 20% doch noch ins Boot zu holen, ist sie der bessere Weg. Sowohl für die Bekämpfung der Pandemie, als auch für die Demokratie.
Ich bin überzeugt, dass wir diese Möglichkeit haben. Sie scheint mir offensichtlich und überraschend einfach. Sie ist sofort umsetzbar, und kostet keinen Cent:

Eine tägliche Selbsttestpflicht für Ungeimpfte

Sie ist kostenlos, da 1€/Tag problemlos zumutbar ist. Sie ist kontrollierbar, wenn der Test mit der Corona-App ausgelesen und zertifiziert werden muss (wie in Österreich). Sie erhält die Impfmotivation, da der Test lästig ist und keinen Selbstschutz bietet. Sie ist vor allem wirksam, da Tests sogar besseren Fremdschutz bieten können als die aktuellen Impfungen. Da das ein wichtiger Punkt ist, hier die Zahlen mit Quellen:

Johnson1
Astra2
Biontech3
Schnelltest4,6
Schnelltest4,6
(maschinell ausgelesen)
Schutz gg.
symptomatische
Infektion5
40-63%67%75%84%88%

Eines ist sie leider nicht: ein Schutz vor schweren Verläufen. Sie funktioniert also nur, wenn man zudem alle nötigen Maßnahmen ergreift, um ein weiteres Anwachsen der Inzidenz zu verhindern. Das ist bitter, aber ohnehin unvermeidlich. Schon jetzt ist ein Drittel der Klinikpatienten geimpft. Gibt es keine Ungeimpften mehr, platzen die Kliniken also lediglich einen Faktor drei später – bei dem aktuellen Wachstum im Advent statt im November.

Warum sollte also ein täglicher Selbsttest ein schlechterer Beitrag sein als eine Impfung?

Ich und viele Andere wären der Gesellschaft unendlich dankbar, diese Wahlfreiheit zu bekommen. Und der Kampf gegen die Pandemie würde damit wieder von einem Spaltpilz zu einer kollektiven Kraftanstrengung, die die Gesellschaft eint.

Referenzen

1AGES, Estimates of COVID-19 Vaccine Effectiveness against SARS-CoV-2 infection following a nationwide vaccination campaign: a population-based cohort study (2021)
2J.L. Bernal et al., Effectiveness of Covid-19 Vaccines against the B.1.617.2 (Delta) Variant, N Engl J Med; 385:585-594 (2021)
3Robert-Koch-Institut, FAQ zur Wirksamkeit der COVID19-Impfstoffe, Diese Zahl ist niedriger als die oft berichteten 88% kurz nach der 2. Dosis, weil die Wirkung schon nach wenigen Monaten nachlässt. Für den Fremdschutz zählt aber der zeitliche Mittelwert, also eher die RKI-Zahl.
4L.E. Brümmer et al., Accuracy of novel antigen rapid diagnostics for SARS-CoV-2: A living systematic review and meta-analysis. PLoS Med 18(8): e1003735 (2021)
5Häufig liest man, Schnelltests seien unzuverlässiger als eine Impfung. Das scheint sich daraus zu erklären, das Studien bei Schnelltests asymptomatische Infektionen mitzählen, bei Impfungen aber nicht. Das hat gute Gründe und ist keine Böswilligkeit. Für den Fremdschutz sollten wir aber fairerweise beide auf die gleiche Weise messen, so wie hier.
6Diese Tabelle hat eine kleine Restunsicherheit: die Studien zu Schnelltests stammen fast ausschließlich aus der Zeit vor Delta. Die Zahlen können für Delta anders sein, es scheint aber sehr plausibel, dass man mit etwas Optimierung der Tests mindestens dieselbe Zuverlässigkeit auch gegen Delta erreichen kann.