Das COVID-Paradoxon

Wenn du in den Supermarkt gehst, hast du ein gewisses (sehr kleines) Risiko, dich mit COVID zu infizieren, einen schweren Verlauf zu bekommen und auf der Intensivstation zu landen. Letztes Jahr musstest du es voll eingehen, dieses Jahr bist du doppelt geimpft.

Wieviel kleiner ist dieses Risiko jetzt?

75% (Schutz vor Ansteckung)?
90% (Schutz vor schwerem Verlauf)?
75% mal 90%?

Alles falsch. Das Risiko ist tatsächlich exakt ganz genau so hoch wie letztes Jahr! Das Risiko für einen schweren Verlauf, wohlgemerkt. Nicht das für die Erkrankung selbst.

Warum? Weil die Inzidenz dieses Jahr 10 mal höher ist. Wenn die Impfung einen Faktor 10 Schutz gegen einen schweren Verlauf bringt, kann man auch die Inzidenz 10 mal höher wachsen lassen, bis die Krankenhäuser platzen. Das individuelle Risiko wächst aber natürlich linear mit der Inzidenz.

Als mir das bewusst wurde, war ich ziemlich überrascht. Ich hatte mich schon auf das Gefühl gefreut, nach der Impfung sorglos in das alte Leben zurückkehren zu können, und war enttäuscht, dass das sehr irrational war. Das Risiko für schweres COVID ist mit der Impfung kein bisschen kleiner, und das Risiko für die wirklich schlimmen Dinge wie Long COVID womöglich sogar um ein Vielfaches höher.
Diese Erkenntnis ist ziemlich frustrierend. Egal wie gut die Impfung funktioniert, sie wird das Risiko zumindest bei der aktuellen Politik nicht reduzieren.

Es gibt noch eine paradoxe Konsequenz: der beste Schutz gegen COVID sind die Ungeimpften! Solange es sie noch gibt, muss die Politik schon vor dem Faktor 10 Maßnahmen ergreifen und die Inzidenz deckeln. Das Risiko für Geimpfte ist dann, und nur dann, tatsächlich kleiner als letztes Jahr.
Vielleicht sollten wir den Ungeimpften dankbar sein, dass sie so selbstlos für die Allgemeinheit den Kopf hinhalten?

So absurd diese Überlegungen klingen, haben sie eine tatsächlich ernste Folge. Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass die schlechte Impfmoral zum Teil genau darauf zurückzuführen ist. Mich persönlich demotiviert die Aussicht sehr, dass ich bei der Impfung meine Gesundheit aufs Spiel setze, nur um danach in einer noch schlimmeren Hölle zu landen, in der nichts mehr für die Eindämmung der Pandemie getan wird und man sich erst recht zurückziehen muss. Eine klare Ansage seitens der Politik, dass die Impfung auch wirklich als Werkzeug genutzt wird, die Krankheit einzudämmen, wäre hilfreich. Am besten verbrieft durch die Rückkehr zur Inzidenz als Maßzahl für alle Maßnahmen. Zumindest aber eine echte Debatte darüber, ob wirklich eine Mehrheit der Bevölkerung COVID durchlaufen lassen will. Ich habe da Zweifel.

Debatte (f.): öffentlich ausgetragene Diskussion, in der mindestens ein Qualitätsmedium und mindestens eine demokratische Partei eine andere Meinung vertreten als die anderen.